Über Brennnessel, Tee & Lebenskunst: Interview mit Johannes Gutmann

Wir alle kennen die Brennnessel als „Königin der Frühlingskur“, als Geheimtipp für die Schönheit von Haut und Haar. Was macht die Brennnessel so wertvoll? Worauf sollte man beim Ernten achten? Was können wir von den Pflanzen lernen? … Ein Interview mit Sonnentor-Gründer Johannes Gutmann über den richtigen Umgang mit der Brennnessel.

Warum bietet der Tee-Experte Sonnentor, bekannt für trendige Verpackungen, Brennnessel bis heute ganz klassisch als „lose Blätter?

Johannes Gutmann: Wir kümmern uns nicht so darum, was die anderen machen. Wir arbeiten und haben eine Philosophie. Wir sammeln Blätter, weil man Blätter schon immer als die aromatischsten Pflanzenteile gesammelt hat. In den ganzen Blättern sind die wertvollen Aromastoffe „originalverpackt“ so dass die Inhaltsstoffe während der Lagerung möglichst wenig oxidieren.

Welche Bedeutung hat die Brennnessel für dich? War sie von Anfang an dabei?

Johannes Gutmann: Natürlich. 1988 begann ich mit 25 Kräutern und Tees, die rund ums Haus wachsen und dort mit Füßen getreten werden. Die Brennnessel ist doch die Erste, die herausgerissen wird. Aber wenn man nachdenkt, sieht man – wow! –, was da wirklich drinsteckt. Das ganze Jahr ab und zu eine Tasse Brennnesseltee, im Frühjahr ab und zu eine Handvoll Brennnesselblätter in den Salat und schon hat man vorgesorgt fürs ganze Jahr …

… trotzdem ist die Brennnessel bis heute ein Tabu. Musstest du große Überzeugungsarbeit leisten, um hier, mitten in Europa, Wildkräuter anzubauen? Die wollen die Bauern doch am liebsten vom Acker wegspritzen …

Das Waldviertel mit seinen kargen Böden ist hierfür ideal. Wildkräuter lieben das … aber meine Bauern der ersten Stunde wurden von den einen ausgelacht. Und die anderen sagten: „Ihr baut’s Unkraut aa. Ihr versaut’s euch die ganzen Böden!“ … die sind inzwischen an ihrer Überproduktion ersoffen. Weil die Struktur des Bodens hier das Wachstum stark zehrender Pflanzen einfach nicht hergibt. Da kannst du draufschütten, was du magst … das ist pure Energieverschwendung!

Anmerkung: … das gilt auch im Kleinen, im eigenen Garten. Wer Wildpflanzen als unsere heimischen Superfoods erkennt und ihnen eine  Platz einräumt, gewinnt Lebenszeit und kann sich teure Nahrungsergänzungsmittel sparen.

Wann erntet man die besten Brennnesseln für Tee?

Johannes Gutmann: Wir ernten zu Anfang der Blütezeit – das ist meist im Juni –, weil die Pflanze da am kräftigsten ist. Die Blütenbestandteile werden mitgeerntet und kommen dann auch mit in die Tüte. Sie sind ja auch wertvoll.

Wer sich „Bio“ aus Leidenschaft verschrieben hat, entwickelt neben den Vorschriften der Bio-Zertifizierung meist eigene Maßstäbe. Dinge, die ihm wichtig sind und von denen er wünscht, dass sie sich verbreiten …

Wir wollen das Beste, d. h., wir wollen essen, was rund ums Haus wächst: frisch und „bio“. Da gibt es keine Alternative. Wir wollen mit den natürlichen Zyklen leben. Und wir akzeptieren, dass die Natur ihre eigenen Zyklen hat … man muss lernen zu warten … Manches gut entwickelte Pflänzchen wird auf den Kompost geworfen … und da fängt es dann zu treiben an … man muss zulassen können, dass es unter anderen Voraussetzungen besser werden kann. Man kann nicht alles in eine Norm pressen. Lass es los … auf wilden Weiden wachsen die besten Kräuter. Das ist ja gerade bei der Brennnessel so, deshalb ist die Pflanze auch so etwas Besonderes.

Die Freiräume liegen oft woanders, als wir denken. Womöglich im Gegenteil dessen, was alle gerade wichtig finden…?

Johannes Gutmann: Ja, so ist es. Nimm doch unsere Rund-ums-Haus-Kräuter. Am wertvollsten sind die nicht wertgeschätzten, es sind die missachteten … nein, schreib „verachteten“ – Brennnessel, Gundelrebe, Bibernelle, Dost, Löwenzahn. Das sind einzigartige Salatraritäten: zehn bis zwanzig Wildkräuterblättchen reingeben. Wie schön das aussieht … wie gut das schmeckt. … Soll ich dir erzählen, wie es damals wirklich war? Also: Als junger Bursch bin ich immer wieder entlassen worden. Viermal. Nie hat man mir gesagt warum. Und da habe ich mir gedacht: Okay, du musst wohl selber was machen, du passt da nicht hin … So hab ich meinen ersten Tee gemischt und ihn „Morgenmuffel-Tee“ genannt. Den brachte ich in einen Teeladen, den ich gut kannte. Und die Verkäuferin meinte: „Gib her, das probieren wir.“ Als ich nach einer Woche nachgefragt habe, wie es denn so liefe, sagte sie: „Geh, des Zeug kannst wieder mitnehmen, wer will schon ein Morgenmuffel sein!?“ Sie hat mit den Weg gewiesen. Der Tee hieß dann „Gute-Laune-Tee“ und war nach zwei Tagen ausverkauft. Man muss den Menschen Freude bringen …
Wow. Wahrscheinlich ist Freude – neben Kalorien – für uns Menschen, einzeln und als Gesellschaft, wirklich die wichtigste Energiequelle. Aber wir können sie nicht messen, nicht berechnen – könnte es sein, dass in der Brennnessel viel mehr steckt als die Summe ihrer Inhaltsstoffe? Vielen Dank, Johannes, für dieses Gespräch …

Das Interview mit Johannes Gutmann, Gründer des Bio-Teeexperten Sonnentor, führte Buchautorin Gabriele Leonie Bräutigam im Rahmen der Recherche des Buchs „Brennnessel. Rezepte für Gesundheit, Schönheit und Wohlbefinden“.

Johannes Gutmann Den Gutmann’schen Hof im Waldviertel (dem nordwestlichen Teil des österreichischen Bundeslandes Niederösterreich) zu übernehmen, das kam für ihn nicht infrage. Er startete 1988 allein mit der Idee, regionale Bio-Kräuter zu verkaufen. Wie eine Pionierpflanze hat sich Sonnentor auf geeigneten „Böden“ angesiedelt und vieles dort durch einfühlsame Nutzung wachsen und blühen lassen – das Waldviertel durch Kräuteranbau, die Menschen durch gutes Gefühl, die Gesellschaft durch Gemeinwohlökonomie.